“Und das Bein noch ein wenig höher. Super gemacht! Jetzt geht es weiter…” Die Stimme dringt aus dem Zimmer meines Mitbewohners, wie ich vernehme, als ich mich auf dem Weg zu meinem Nach-Sport-Snack in die Küche befinde. Mein Training hat gerade aufgehört, da scheint seines zu beginnen. Trotz Corona fit bleiben. Für mich nicht alleine dadurch selbstverständlich, weil ich all den Memes und Witz-Videos, die herumkursieren trotzen will. Ein durchtrainierter Body entwickelte sich bei diesen bereits im Frühjahr ohne Winterspeck und Weihnachtsleckerein zu übergewichtigen Coachpotatoes. Nein, bei mir als eingefleischte Leistungssportlerin ist es nicht der Six-Pack in einem hoffentlich Lock-Down ärmeren Sommer, der meine Hauptmotivation ausmacht. Schließlich sollen Wettkampfziele weiterhin erfüllt werden. In der stetigen Hoffnung, dass diese bald wieder stattfinden dürfen.
Ich muss schmunzeln, als mein Vater mir das Tastenkürzel zuruft, mit dem der Bildschirm um 180 ° gedreht werden kann. Während er im Nebenzimmer Klavier übt und mich scheinbar aus dem Augenwinkel beobachten kann, befinde ich mich gerade in der Vorlesung Europarecht. Befinden ist ein treffenderer Ausdruck als sitzen, denn ich laufe gerade im Zimmer auf meinen Händen auf und ab. Nicht selten hatte ich an vorlesungsreichen Unitagen das Bedürfnis, mein Blut für einige Minuten durch den Körper zu jagen – während dies nicht ohne schiefe Blicke vonstatten ging, dauert es seit vergangenem Semester nur einen Klick, bis die Kamera aus und ich umgedreht bin.
“Jetzt weiß ich endlich, warum unsere Wohnheimstüren so schmal sind!” schreibe ich einer Freundin, die zwei Stockwerke unter mir lebt und sende ein Foto. Mein Brustkorb klebt an der einen, mein langgestrecktes Bein an der anderen Seite des Türrahmens. Wie auch sonst soll ich meine Trainingspartner ersetzen, die mich normalerweise von oben bis unten durchdehnen? Ich lerne also meine Wohnung ganz neu kennen. Die Matratze wird um eine Bohnendose ergänzt und zum Balance-Board umfunktioniert, der Stuhl dient als Handersatz meines Tanzpartners, auf die ich normalerweise hinaufssteige. Die stabile Aufhängstange im Bad wird zum Klimmzuggerät. Das Wahre ist es nicht – aber die Kreativität kennt keine Grenzen. Auch ich werde ersetzt, wie ich nicht selten während der Kader-Training-Online-Sessions miterleben muss und weiß dabei nicht, ob ich durch einen Ballersatz beleidigter sein muss, als mein Tanzpartner, der nun mit Stuhl und Bett konkurriert.
Mit einem Lächeln begrüßen wir uns zum Training, mit hoher Konzentration lerne ich – mich in der Blank-position befindend – Russischvokabeln oder ergänze im Spagat sitzend meine Vorlesungsskripte um handschriftliche Notizen. Und dennoch – erwarte ich nichts sehnlicher als eine offene Sporthalle. Bis dahin wünsche ich allen: Viele Grüße und – bleiben Sie fit!
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