Der vorerst letzte Teil meiner Trilogie über die ersten zwei Monate in Denver. Ab Morgen geht es erst einmal nach Washington, Philadelphia, New York, Boston und Chicago. Ich halte euch auf dem Laufenden!
Mitten im Wahlkampf
„What did you think about the debate”. Eigentlich hatte ich diese Frage zunächst von meiner Dozentin beantwortet bekommen wollen, aber dann gebe ich eben doch die Vorlage. Ich beschreibe die Kandidatendebatte zwischen den kandidierenden Treasurern der nahenden Wahlen als „ungewohnt“. Zwar ist mir die politische Debattenkultur, die in ihrem Fundament bereits so sehr von der deutschen abweicht, durch einige Wahlkampf-Videos bereits bekannt, gestern aber mitten im Raum zwischen den antretenden Kandidierenden zu sitzen, war doch noch einmal ein anderes Erlebnis. In meinen Augen war die Diskussion so lange fruchtbar, bis damit begonnen wurde, nur noch auf den persönlichen Fehlern des Gegners herumzuhacken. „Well, I think that is unfortunately as polite as those debates get” leitet meine Dozentin ihren kurzen Abriss über die doch sehr unhöfliche Debattenkultur der US-amerikanischen politischen Sphäre ein. Ob dies auch dazu führt, dass sich viele nicht für die nahenden Wahlen interessieren? Auf dem Campus werden Lollies verteilt, dafür, dass man sich für die Wahlen registriert. Ich muss die süße Belohnung leider mit dem Hinweis auf meine Staatsangehörigkeit ablehnen. Es erschreckt mich aber doch, dass die Wahlen so in den Hintergrund geraten. „Yeah, I think it is stupid. People only go to elect the president. But the local and the mid-term elections are so much more important for them in their daily lives. I do not know why most citizens don’t understand that!” Es ist eine Kommilitonin aus den USA, die sich mit mir über die geringe Begeisterung der Bevölkerung über die demokratischen Beteiligungsmöglichkeiten austauscht. Der ursprüngliche Anlass meiner Frage: Alleine beim Cheerleading hatte ich mehrfach die Aussage „I do not go to elections. Only for the president“ vernommen. Einigermaßen stolz muss ich da tatsächlich über die Deutschen sein, die mit einer Wahlbeteiligung von über 76 % bei den Bundestagswahlen 2021 selbst die Quoten der Präsidentschaftswahlen in den USA übertreffen.
Pfund und Wasser bei 175 Grad
„How much weight shall we put on the bar?” “Wait, I …I am from Germany and I am not yet used to pounds, so I have to calculate…”. Als ich im Camera Acting Kurs von dieser Erfahrung berichte, kommt mir Matthew mit seiner Meinung zuvor “I just don’t understand it. Why are we Americans so stupid and have to use our own system with everything? Miles, pounds, fahrenheit…?“ Tatsächlich machen es mir die Umrechnungen nicht leichter, mich in den ersten Wochen zurechtzufinden. Sind 90°F nun warm oder kalt? Wie warm muss ich mich anziehen, wenn es hier im Winter 18°F wird und wie kann ich davon erzählen, dass ich vor einem Jahr auch die -23°C in Sankt Petersburg überlebt habe, ohne alle zu verwirren? Es fühlt sich seltsam an, auf einmal nicht kommunizieren zu können, wie groß und wie schwer ich bin. Nach und nach werde ich schneller im Umrechnen und nach noch etwas mehr Zeit entwickle ich langsam ein Gefühl für die „neuen“ Maßeinheiten.
Doch – ganz so schnell erfolgt die Gewöhnung doch noch. Es sind knapp zwei Monate nach meiner Ankunft als ich einen Moment brauche, um zu verstehen, dass der Hersteller der Teebeutel bei seinem Aufdruck „Water temperature 175 degrees“ keinen Fehler gemacht hat.
Compliments in the air
„I love your hair!“ „Your earrings are so nice!” “You look very pretty”. In den ersten Tagen frage ich mich einige Male, ob ich wirklich im richtigen Land angekommen bin. Derartige Anmerkungen habe ich das letzte Mal in China vernommen. Der Unterschied: hier sprinten die Menschen nicht auf mich zu und wollen ein Foto mit dem „ausländischen Star aus Europa“. Die Komplimente zielen nicht darauf ab, dass ich äußerlich als Ausländerin erkennbar bin, sondern betreffen mich individuell. Es dauert die erste Woche, dann bin ich schon so an die täglich umherschwirrenden positiven Anmerkungen gewöhnt, dass ich selbst dazu übergehe, andere darauf aufmerksam zu machen, wenn mir etwas besonders gut gefällt – egal ob Kleidungsstück, Körperteil, oder ein Auftritt. Es ist schön, meinem Gegenüber damit ein Lächeln auf die Lippen zaubern zu können.
Wie lange noch?
Ich könnte fortfahren, all die netten Menschen aufzuzählen, die mir in den USA begegnen.
„How long are you going to stay in the US?”. Jedes Mal, wenn mir diese Frage gestellt wird, muss ich ein wenig Schmunzeln „The next two years for sure. And after finishing my Masters – let’s see!“ In dieser Antwort spiegelt sich sehr gut wider, was meine persönliche Reaktion auf die freundliche Atmosphäre hier in den USA ist: zwar weiß ich noch nicht sicher, wie es nach meinen zwei Jahren akademischen Lebens in Colorado weitergehen wird, aber abgeneigt bin ich dem Gedanken aktuell nicht, meinen Aufenthalt noch ein wenig zu verlängern.
„Heilig, heilig, heilig, heilig ist Gott der Herr Zebaoth!“. Das Publikum applaudiert. Ich lächle, während mich meine Mitsänger:innen nach dem Verklingen der letzten Note etwas unsicher anschauen. Ich nicke ihnen aufmunternd zu. „Yes, it was really good!“ Ich lobe sie nach Ende des Konzerts. Nicht nur, weil ich sie alle inzwischen in mein Herz geschlossen habe und ihnen nicht den Abend vermiesen möchte – sondern, weil sie wirklich enorme Fortschritte gemacht haben. Das ‚O‘ hat das amerikanische Rollen verloren und auch das ‚I‘ schaffen sie inzwischen, deutschklingend auszusprechen. Dr. Sailer bedankt sich noch einmal bei mir. Und ich bin stolz, nicht nur mit meiner tiefen Altstimme, sondern auch mit meinem sprachlichen Hintergrund unterstützt zu haben.