„Der Aalener Spionle!“ antwortet mir Amelie, als ich fragend auf den Teller mit den gleichmäßig zerteilten Schokoladenpralinen zeige. „bei uns ist das eine Spezialität“. Gut zu wissen, denn gleich muss ich als deutsche Einheimische sicher die ein oder andere Expertinnenfrage beantworten. Beim deutschen ortsspezifischen Feingebäck habe ich mich gerade schon erfolgreich disqualifiziert. Doch die Teller füllen sich nach und nach mit bekannteren Speisen – sowohl mit solchen, wie ich sie aus den deutschen Supermarktregalen kenne, als auch mit einigen, wie ich sie seit meinem Aufenthalt in Russland zu Gesicht bekommen habe. Nachdem schließlich ein dritter Tisch im Raum platziert wurde, und es ein paar einführende Worte von der drb-Koordinatorin Anna gab, dürfen wir diese Leckereien schließlich auch zu Munde führen. Drei Tische? DRB? Ich versuche die einführenden Worte einmal zu verschriftlichen und etwas auszubauen.

Denn aktuell sitze ich nicht ganz zufällig in einem gemütlich eingerichteten Raum in der Nähe des Moskauer Bahnhofs in Sankt Petersburg. Vielmehr findet an diesem Samstag der Kennenlerntermin zwischen den Freiwilligen des Programms Humanitäre Geste und den Blokadniki statt. Bei dem Projekt handelt es sich um ein Programm des Auswärtigen Amts Deutschlands, welches vom Deutsch-Russischen-Begegnungszentrum lokalisiert in Sankt Petersburg organisiert wird. Das Hauptziel: die Zeiten der Leningrader Blockade in der deutschen Bevölkerung publik machen. Wie uns allen bereits in den Online-Reflexionszusammenkünften aufgefallen ist, spielte dieses Kriegsverbrechen im Geschichtsunterricht unserer Schulen kaum eine Rolle. Wir erfahren noch vor unserer Anreise in Russland vom Kältewinter 1941/42, von den hohen Todeszahlen, von der trotz Hunger und Kälte weitergeführten Kulturszene, von den Evakuierungen über den Ladogasee,… Ergänzt werden diese geschichtlichen Einheiten um den Kurs „Interkulturelle Kommunikation“. Auch in „Teamstunden“, um sich näher kennenzulernen, kommen wir bis in die Abendstunden zusammen: 11 deutsche und 11 russische Freiwillige würden drei Monate lang zusammenarbeiten. Worin genau unsere Arbeit besteht? So richtig kristallisiert sich das erst im Moment heraus – flexibel zu sein ist in jedem Fall die alleroberste Priorität unserer Jobbeschreibung.

„Schnell wieder raus!“ ist tatsächlich nicht das Fazit unseres Ausflugs am ersten Wochenende im wunderschönen Orekhovo – sondern nur der Ausruf als Franka und ich ins Eiswasser springen. Nach zwei Minischwimmeinheiten renne ich in meine „дача“ die unbegreifbar warm beheizt ist. Aufgewärmt geht es weiter mit den Einheiten, in denen wir noch einmal die anstehenden Monate vorbereiten. Die Vorfreude steigt…

Smartphonecafé, Theaterklub, Malen,… „das wichtigste ist Kaffeetrinken und euch mit den Menschen unterhalten“, so unsere Koordinatorin Anna. Die Erfahrungen, die wir im Laufe der ersten Woche machen, sind sehr vielseitig. Summa summarum: Viele wirklich beeindruckende Personen, angefangen bei Menschen gen der 80, die mit Tik Tok umzugehen wissen, weitergehend über Russlanddeutsche, die eindrucksvoll von ihrer Leidensgeschichte nach der Leningrader Blockade berichten, bis hin zu Blokadniki, die stundenlang vollständig frei Gedichte rezitieren können. Auf den Weg zu den unterschiedlichen Veranstaltungsorten begeben wir uns meist von unserer Unterkunft aus, gelegen im Herzen Sankt Petersburgs direkt am Fluss Fontanka. Innerhalb der sogenannten „Akademie“ bestehend aus verschiedensten Vereinen, wird ein facettenreiches Freizeitangebot geschaffen. Umrahmt wird das ganze von übergeordneten Projekten, die wir bis Ende des Freiwilligendiensts in Gruppenarbeiten finalisieren. Ideen zu Podcastfolgen, Online-Ausstellungen, Spielfilmen und Audiostadtführungen machen Lust auf mehr – und wir sind selbst gespannt, was am Ende dabei herauskommen wird.

Während viele neue Arbeitserfahrung beginnt, neigen sich einige Module ihrem Ende zu: Als Abschluss der Einheiten zur Interkulturellen Kommunikation wird ein Kochabend organisiert: Diskussionen über den „deutschen“ Kartoffelsalat (mit Mayonnaise? Mit Gemüse- oder Rinderbrühe? Strenger Knoblauchverbot? Öl erst beim Servieren?) entbrennen, eine sehr leckere russische „Vinaigrette“ wird zubereitet und zum krönenden Abschluss gibt es ein deutsch-russisch kombiniertes Gemeinschaftsdessert: Zimtschnecken in Herzensform à la russischer Gebäcktradition. Das letzte Erlebnis sollte es nicht in Hinblick auf interkulturelle Ereignisse bleiben, aber in jedem Fall ein sehr prägendes unter vielen.